Erkrankungen durch Isocyanate, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
Bei den Erkrankungen durch Isocyanate, Nr. 1315 der Berufskrankheitenliste, findet sich die für die Berufskrankheitengruppe 13 atypische Voraussetzung, daß nicht nur die Erkrankung entstanden sein muß, sondern daß diese dann auch zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen hat, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.
Tip: In diesem Fall bestehen Sie bitte zugleich auf Feststellung von Übergangsleistungen nach § 3 II BeKV (Ausgleich des Verdienstausfalls in den ersten 5 Jahren nach Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit). Die Verletztenrente aus Anlaß der Berufskrankheit darf hierauf nicht angerechnet werden.
Die Berufskrankheiten, die in der Liste mit der Nr. 13 anfangen, beinhalten die Schädigungen durch Lösemittel, Schädlingsbekämpfungsmittel (Pestizide) und sonstige chemische Stoffe. Isocyanate sind reaktionsfreudige Ester der Isocyansäure mit einer oder mehreren Atomgruppen -N=C=O. Di- und Polyisocyanate bilden gemeinsam mit den Polyolen die Grundbausteine der Polyurethan-Chemie und werden teils in reiner Form teils mit anderen Zusatzstoffen in Arbeitsprozessen eingesetzt.
Gefahrenquellen:
Die Stoffgruppe (z.B. Desmodur-Produkte) besitzt ein breites Anwendungsfeld für die Herstellung von Schaum- und anderen Kunststoffen, Lacken und sonstigen Oberflächenbeschichtungen, Klebern und Härtern, Pharmazeutika, Pestiziden und anderen Erzeugnissen der chemischen Industrie. Beim Spritzlackieren entstehen isocyanathaltige Aerosole. Mit einer Gesundheitsgefährdung muß insbesondere beim Verarbeiten von 2-Komponenten-Reaktionssystemen gerechnet werden. Das Verbrennen und Verschwelen von Polyurethanen setzt möglicherweise Isocyanate frei. Die körperliche Aufnahme erfolgt vorwiegend durch Inhalation von isocyanathaltigen Dämpfen, Aerosolen und Staubpartikeln. Zielorgane der Erkrankung sind der Atemtrakt (obstruktive Atemwegserkrankung, Alveolitis), die Haut, die Augen insbesondere. Es gibt Personen, welche schon auf sehr geringe Isocyanatkonzentration eine starke Bronchialobstruktion erleiden. Eine inhalative Provokation mit Isocyanaten dürfte vielfach zur Diagnoseerstellung nicht erforderlich sein und erscheint überdies als gefährlich. Konkurrenzen können mit der Berufskrankheit 4301/4302 bestehen (Bronchial Asthma allergischer oder chemisch-toxischer Art. Beim Umgang mit noch heißen Matratzenrohlingen aus Schaumstoff wurden Atemnotanfälle und der Fall eines Bronchial Asthmas beobachtet. Isocyanate können auch eine Entzündung der Lungenbläschen hervorrufen. Hautveränderungen können als Erscheinungen einer Allgemeinerkrankung durch Aufnahme der schädigenden Stoffe in den Körper verursacht sein oder gemäß Nr. 5101 (berufliche Hauterkrankung) entschädigt werden. Isocyanathaltige Spritzer ins Auge können Hornhautschädigungen verursachen.
Berufskrankheit Nr. 1315
der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV)
(Bek. des BMGF, BArbBl 3/2004 S. 32)
Ersatz für das vormals relevante „Merkblatt für die ärztliche Untersuchung
(Bek. des BMA, BArbBl 3/93 S. 48)Isocyanate sind reaktionsfreudige Ester der Isocyansäure mit einer oder mehreren O=C=N – Atomgruppen. Di- und Polyisocyanate bilden gemeinsam mit den weitgehend ungiftigen Polyolen die Grundbausteine der Polyurethan (=PUR)-Chemie und werden teils in reiner Form, teils mit anderen Zusatzstoffen in Arbeitsprozessen eingesetzt.
Für Diisocyanate, Phenyl- und Methylisocyanat liegen außerordentlich niedrige Luftgrenzwerte vor. Für Isocyansäure gibt es in Deutschland ebenso wie für die heute vorwiegend verwendeten oligo- und präpolymeren Isocyanate und die Gesamtmenge an freien Isocyanatgruppen bisher keinen Luftgrenzwert. Für Diisocyanattoluol (TDI) wurde der Luftgrenzwert wegen möglicher kanzerogener Effekte ausgesetzt (krebserzeugende Kategorie 3 A).
I. Vorkommen und Gefahrenquellen
Die Stoffgruppe besitzt ein breites Anwendungsfeld für die Herstellung von Weich-, Hart-, Integral-, Isolier-Schaumstoffen und anderen Kunststoffen, Lacken und sonstigen Oberflächen-Beschichtungen, Vergussmassen, Elastomeren, Klebern, Härtern, Pharmazeutika, Pestiziden und anderen Erzeugnissen der chemischen Industrie. Hauptanwendungsbereiche sind die Kraftfahrzeug-, Flugzeug-, Metall-, Möbel- und holzverarbeitende Industrie, das Baugewerbe, der Bergbau (Gebirgsverfestigung), Gießereien, die Textil- und Bekleidungsherstellung und der Sportbahnbau (TRGS 430).
Von besonderer Bedeutung sind Isocyanat-haltige Aerosole, die beim Spritzlackieren von Lacken mit Isocyanathärter entstehen. Mit einer Gesundheitsgefährdung muss beim Verarbeiten von Isocyanat-haltigen 2-Komponenten-Reaktionssystemen gerechnet werden. Es gibt auch Isocyanat-haltige 1-Komponenten-Produkte, die mit dem Wasserdampf der Luft aushärten. Großflächig aufgetragen, können Isocyanate durch verdunstende Lösemittel mitgerissen werden. Epoxid-haltige und Alkydharz-Bindemittel werden gelegentlich mit Isocyanaten kombiniert. Das Erhitzen, Verschwelen und Verbrennen von Polyurethanen setzt verschiedene Isocyanate frei. Dies gilt v.a. für das Schweißen von PUR-lackierten bzw. -beschichteten Metallen, für das Ein- oder Abbrennen von PUR-Lackschichten, das Stahl- und Aluminiumgießen in MDI-gefestigte Sandkerne und andere Formen, das Schneiden von Hartschaumplatten, die mechanische Bearbeitung unter Hitzeentwicklung von Isocyanat-verleimten Spanplatten, das Anschleifen von PUR-Anstrichen, Wohnungs- und Autobrände.
Auch starkes Erhitzen und Verbrennen von stickstoffhaltigen Materialien, wie Phenol-Formaldehyd-Harnstoff-Harz (Bakelite; u.a. Chip-Platinen) und beschichteter Steinwolle, führen zur Bildung und Freisetzung von Isocyanaten (Karlsson et al. 2000; 2001; 2002). In der Regel entstehen bei den vorgenannten Prozessen unter hohen Temperaturen (über 350 °C) großteils niedermolekulare Monoisocyanatverbindungen wie Isocyansäure (HNCO; ICA) und Methylisocyanat (CH2NCO; MIC).
Im Einzelnen sind von besonderer Bedeutung:
» Diisocyanattoluol (=Toluylendiisocyanat = TDI; Toluoldiisocyanat;
Methylphenylendiisocyanat) einschließlich seiner Polymeren:
Diese Substanz dient zur Herstellung von Polyurethanen, die als Weichschaumstoffe, Elastomere, Beschichtungen, Klebstoffe und Lackrohstoffe Verwendung finden. Während der Produktionsprozesse und bei der Anwendung besteht eine gesundheitliche Gefährdungsmöglichkeit, vorwiegend bei der Herstellung von Polyurethanschaum und dem Aufschäumen zur Polsterung, als Verpackungsauskleidung und als Isolierschicht. Dies geschieht häufig im 2-Komponenten-Verfahren, wobei die eine Komponente aus TDI besteht.
» Diphenylmethan-Diisocyanat (=Methylendi-(phenylisocyanat) = MDI) einschließlich seiner Oligo- und Polymeren:
Wegen des im Vergleich zu TDI geringen Dampfdrucks ist die gesundheitliche Gefährdung durch MDI bei Raumtemperatur niedriger einzustufen. Eine Gefährdungsmöglichkeit liegt vor an Arbeitsplätzen zur exothermen Hartschaumproduktion für Maschinen- und Karosserieteile, zur Produktion von Automobilteilen und zur Beschichtung von Textilien und Leder. Eine Einwirkung von MDI kann ferner auftreten bei der Herstellung von Holzersatz, von Fußböden und von Sportartikeln sowie während seiner Verwendung als Bindemittel für den Formsand in Metallgießereien und zur Gesteinsverfestigung im Bergbau.
Merkblatt zur BK Nr. 1315: Erkrankungen durch Isocyanate, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
» Hexamethylen-Diisocyanat (HDI: OCN-CH2-CH2-CH2-CH2-CH2-CH2-NCO) einschließlich
seiner Polyisocyanat-Modifikationen
» Dicyclohexylmethan-4,4′-Diisocyanat (HMDI) wird vorwiegend Lacken und anderen Beschichtungsmaterialien zugesetzt. Eine gesundheitliche Gefährdung besteht während der Oberflächenbearbeitung mit diesen Materialien.
» Naphthylen-Diisocyanat (NDI)
findet für die Fabrikation besonderer Kunststoffe (Elastomere) Verwendung.
» Isophoron-Diisocyanat (PDI)
wird neuerdings vermehrt für die Herstellung von 2-Komponenten-Lacken und anderen Beschichtungsmaterialien, beispielsweise auch für die Lederzurichtung, herangezogen. Wegen des im Vergleich zu TDI und HDI niedrigen Dampfdrucks ist die gesundheitliche Gefährdung durch Dämpfe etwas geringer.
» Phenylisocyanat
besitzt eine Bedeutung als Zwischenprodukt für die Synthese von Klebern, Kunststoffen, pharmazeutischen Wirkstoffen, Agrochemikalien und Farbstoffen.
» Methylisocyanat
dient als Syntheseausgangssubstanz, beispielsweise zur Herstellung von Pflanzenschutzmitteln und Fotochemikalien. Es tritt außerdem als Pyrolyseprodukt von Polyurethanen auf.
» Isocyansäure
wird bei Temperaturen über 200 °C als Pyrolyseprodukt gebildet.
II. Pathophysiologie
Die Isocyanate reagieren insbesondere chemisch mit NH2- und OH-Gruppen, so dass Zellmembranen im menschlichen Körper verändert und zerstört werden können. Toxische Wirkungen werden auch mit einer in vitro nachgewiesenen Hemmung der Acetylcholinesterase erklärt. Die Aufnahme erfolgt vorwiegend durch Inhalation von Isocyanat-haltigen Gasen, Dämpfen, Aerosolen und Staubpartikeln. Dies kann zu allgemeinen Reizerscheinungen am Auge und im Respirationstrakt führen. Nach tierexperimentellen Befunden mit hohen Dosen verteilen sich Isocyanate bzw. deren Metabolite auch im Blut, im gastrointestinaltrakt und in geringen Mengen in anderen Organen. Isocyanate rufen gelegentlich eine Sensibilisierung im Sinne einer Typ-I-Allergie hervor. Wie alle derartigen allergischen Reaktionen, kann diese schon bei Einwirkung sehr geringer Konzentrationen erfolgen. Im Serum von 5-20% der Exponierten sind spezifische IgE- oder/und IgG-Antikörper nachweisbar. Wiederholter Hautkontakt kann neben lokalen toxischen und allergischen Reaktionen eine stoffspezifische bronchiale Überempfindlichkeit hervorrufen (Beck und Leung 2000; Wisnewski et al. 2000; Baur et al. 2003).
Die erwähnten Mechanismen können zu einer Bronchialobstruktion mit asthmaähnlicher Symptomatik führen. Weniger häufig kommt es zu einer Schädigung des Alveolarepithels in den Lungen mit dem klinischen Bild einer Alveolitis, nach schweren Vergiftungen auch zur Entwicklung eines toxischen Lungenödems.
III. Krankheitsbild und Diagnose
» Obstruktive Atemwegserkrankung
Sie ist gekennzeichnet durch Reaktionen in den Luftwegen in Form von Hustenreiz, retrosternalem Druckgefühl, Brennen in der Luftröhre und asthmaähnlicher Atemnot mit trockenen, giemenden und pfeifenden Begleitgeräuschen bei der Atmung. Gelegentlich gehen Reizerscheinungen an den Konjunktiven und an den Nasenschleimhäuten voraus. Die Atembeschwerden verstärken sich bisweilen erst einige Stunden nach der Exposition. Die Diagnose stützt sich auf die Arbeitsanamnsese und die Messung des Atemwegswiderstandes, hilfsweise auf die Einschränkung der Ein-Sekunden-Kapazität bei forcierter Ausatmung, auf das Fluß-Volumen-Diagramm oder die Peak-Flow-Messung. Ein arbeitsplatzbezogener inhalativer Expositionstest mit Isocyanaten ist zur Sicherung der Diagnose selten erforderlich und kann nur unter ausreichenden klinischen Sicherheitsvorkehrungen durchgeführt werden. Nach chronischer oder akuter, sehr hoher Einwirkung kann sich eine chronische obstruktive Atemwegserkrankung entwickeln. Es gibt Personen, welche schon auf sehr geringe Isocyanatkonzentrationen (z.B. 0,001 ml/m3=ppm) eine starke Bronchialobstruktion erleiden. In leichteren Fällen kommt es nur zu einer bronchialen Hyperreagibilität, welche durch unspezifische bronchiale Reagibilitätstests, z.B. mit Methacholin, nachgewiesen wird. Der negative Ausfall eines unspezifischen bronchialen Reagibilitätstest schließt – insbesondere nach Karenz gegenüber Isocyanaten – eine arbeitsbedingte Atemwegsobstruktion nicht aus. Auch bei einem negativen arbeitsplatzbezogenen inhalativen Expositionstest mit einer bestimmten Isocyanatverbindung kann eine bronchialobstruktive Reaktion auf Exposition mit einer anderen Isocyanat-Verbindung erfolgen. Das vermehrte Vorhandensein spezifischer IgE- Antikörper im Serum stützt die Diagnose, ist für sie jedoch nicht Voraussetzung. Ein routinemäßig einsetzbares Hauttestverfahren existiert noch nicht.
» Alveolitits
Die Diagnose ergibt sich aus der Kombination von Fieber, Schüttelfrost, Dyspnoe und Druckgefühl im Brustbereich nach mehrstündiger Latenzzeit, röntgenologisch sichtbaren Veränderungen in der Peripherie der mittleren und unteren Lungenfelder in Form von interstitieller Zeichnungsvermehrung und/ oder (klein-)fleckigen, alveolaren Verdichtungen. Auskultatorisch hört man feinblasige Rasselgeräusche. Hinzu kommen die weiteren Zeichen einer Lungenparenchymerkrankung, insbesondere die Abnahme der Vitalkapazität und des CO-Transferfaktors (Diffusionskapazität). Wie bei Alveolitiden anderer Genese werden auch ein Abfall des Sauerstoffpartialdruckes im arteriellen Blut nach Belastung und akute systemische Reaktionen, wie Myalgien und ein Anstieg der Leukozyten im peripheren Blut, beobachtet. Ein Übergang in eine Lungenfibrose wurde bisher nur vereinzelt beobachtet.
IV. Weitere Hinweise
Empfindliche Personen können auch eine Bronchialobstruktion durch Isocyanate erleiden, wenn sich ihr Arbeitsplatz in größerer Entfernung zur Emissionsquelle befindet oder in der Luftmessung keine Isocyanate festgestellt werden (Cave: Fehlmessungen u. a. in Folge Aerosolbildung und Kondensation, z.B. von MDI, NDI, Polyisocyanaten). Nach Beendigung der Exposition bilden sich die respiratorischen Symptome etwa in der Hälfte der Fälle wieder völlig zurück. Für MDI gibt es einen BAT-Wert (s. aktuelle MAK- und BAT-Werte-Liste). Differentialdiagnostisch sind insbesondere allergische Asthmaerkrankungen bei Sensibilisierung gegen Pflanzenpollen, Hausstaubmilben, Tierhaare und das im mittleren Lebensalter charakteristischerweise nach Bronchialinfekten auftretende und fortbestehen-de Infekt-Asthma („Intrinsic-Asthma“) abzugrenzen. Eine Bronchialobstruktion während des Umganges mit Isocyanaten kann auch anderweitig bedingt sein: z.B. durch tertiäre aliphatische Amine, die als Katalysatoren bei der Weichschaum- sowie bei der Kernsand-Herstellung Verwendung finden; durch Aerosole von allergisierenden Kühlschmiermitteln oder durch Rizinusöl, das u.a. Gesteinsverfestigern zugesetzt wurde
Bei hoher Luftfeuchte kann ein bedeutender Teil der Isocyanate zu Aminen umgebaut werden (z.B. 2,4-TDI zu 2,4-Toluylendiamin = MAK-Liste III. Krebserzeugende Arbeitsstoffe, Kategorie 2). Ins Auge gelangte Isocyanat-haltige Spritzer können Hornhautschädigungen verursachen. Urtikaria, Kontaktekzem und toxische Dermatitis treten insbesondere nach ungeschütztem
Umgang mit Isocyanaten auf. Isocyanatinduzierte Hauterkrankungen fallen unter die Nr. 5101 Anlage der BKV.
Die Unterlassung der gefährdenden Tätigkeiten ist nicht Voraussetzung für die Anzeige als Berufskrankheit.
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Merkblatt zur Berufskrankheit Nummer 13151
Quelle: 1 Universität Rostock – Medizinische Fakultät
Institut für Präventivmedizin