Ionisierende Strahlen

Erkrankungen durch ionisierende Strahlen
Berufskrankheit Nr. 2402

Erkrankungen durch ionisierende Strahlen
Merkblatt für die ärztliche Untersuchung
(Bek. d. BMA v. 13. Mai 1991, BArbBl. 7-8/72)

I. Vorkommen und Gefahrenquellen
Röntgenstrahlen sind in der Antikathode durch Abbremsung der Elektronen erzeugte energiereiche, elektromagnetische Wellen. Von Gegenständen, die durch Röntgenstrahlen getroffen werden, gehen Streustrahlen aus. Röntgenstrahlen können eine Gefahrenquelle darstellen für Personen, die der direkten oder indirekten Einwirkung, z. B. im Bereich der Medizin, bei der Materialprüfung, in der Röntgenapparate- oder -röhrenindustrie, ausgesetzt sind. Radioaktive Stoffe sind Elemente, d. h. Radionuklide, die von selbst zerfallen und dabei spontan Strahlen aussenden, meist Alpha-, Beta- oder Gammastrahlen. Man unterscheidet natürliche und künstliche radioaktive Stoffe. Letztere werden vorwiegend in Reaktoren als Spaltprodukte oder durch Neutronenbeschuß gewonnen. Radioaktive Stoffe kommen in fester oder flüssiger Form oder als Gase vor; sie werden als offene oder umschlossene Präparate verwendet. Radioaktive Stoffe können in entsprechenden Dosen eine Gefahrenquelle für Personen sein, die bei Gewinnung, Verarbeitung, Verwendung oder beim Transport mit diesen Stoffen oder den von ihnen ausgesandten Strahlen in Berührung kommen, z. B. bei der medizinischen Diagnostik oder Therapie, bei wissenschaftlichen Untersuchungen, bei der Werkstoffprüfung, bei bestimmten Meßverfahren, bei der industriellen Verarbeitung und Anwendung von Radionukliden sowie bei Tätigkeiten im Uranbergbau und in kerntechnischen Anlagen. Unter anderen ionisierenden Strahlen sind solche atomaren Teilchen zu verstehen wie Elektronen, Protonen, Deuteronen und andere beschleunigte Ionen sowie Neutronen, die direkt oder indirekt ionisieren. Diese können in Atomreaktor- und Teilchenbeschleunigerbetlieben vorkommen.

II. Pathophysiologie
Alle energiereichen ionisierenden Strahlen lösen beim Auftreffen auf Materie physikalisch-chemische Reaktionen aus, die im lebenden Gewebe zu Störungen der Zelltätigkeit, zum Zelluntergang und damit zu funktionellen und morphologischen Veränderungen führen können. Durch die Körperoberfläche, d. h. von außen einwirkende ionisierende Strahlen (externe Exposition) haben im Organismus bei identischer Dosis prinzipiell die gleiche Wirkung wie die Strahlen, die von inkorporierten (über Atem- und Verdauungswege oder Haut und Schleimhaut) radioaktiven Stof fen ausgehen (interne Exposition). Das Ausmaß der biologischen Wirkung ist abhängig von physikalischen Komponenten, wie

  • absorbierter Strahlenmenge (Dosis),
  • Strahlenart,
  • zeitlicher Verteilung der Dosis (Dosisleistung, ein- oder mehrmalige Bestrahlung in kürzeren oder längeren Zeitabständen),
  • räumlicher Verteilung der Dosis (Ganzkörperbestrahlung, lokale Bestrahlung) und von biologischen Faktoren, wie
  • Alter, Geschlecht, Gesundheits- und Ernährungszustand, Temperatur des exponierten Individuums,
  • Strahlenempfindlichkeit des betroffenen Gewebes.

Bei Inkorporierung spielen die physikalische Halbwertzeit und das Stoffwechselverhalten des
radioaktiven Stoffes eine entscheidende Rolle.

III. Krankheitsbild und Diagnose
Man unterscheidet nicht-stochastische und stochastische Strahlenwirkungen. Bei den nicht-stochastischen Wirkungen muß eine Schwellendosis überschritten werden, damit der Effekt eintritt; bei den stochastischen Strahlenwirkungen wird keine Schwellendosis angenommen.
A. Akuter Strahlenschaden nach Ganzkörperbestrahlung
Er beruht meistens auf einem Unfall. Im Vordergrund stehen bei Dosen über 1 Sv zunehmend Schäden der Zellerneuerungssysteme für Blut und des Darmepithels. Das Bild der akuten Strahlenkrankheit aggraviert mit steigender Dosis und ist gekennzeichnet durch das sogenannte akute Strahlensyndrom. Hierzu gehören u. a. in der Frühphase Kopfschmerzen, Übelkeit, Brechreiz, Abgeschlagenheit, Appetitmangel und später insbesondere Infektanfälligkeit sowie Blutgerinnungsstörungen mit Blutungen in Haut und Schleimhäuten; auch blutige Durchfälle und Erbrechen können auftreten. Bei entsprechend hoher Dosis (2 Sv und höher) fällt bereits in den ersten Stunden bis Tagen nach dem Strahleninsult die Lymphozytenzahl im zirkulierenden Blut ab; die übrigen Blutelemente (Granulocyten, Thrombozyten, Erythrocyten) folgen dosisabhängig und entsprechend ihrer biologischen Lebenszeit in späteren Tagen, da die Zellerneuerung im Knochenmark geschädigt ist.
B. Akuter lokaler Strahlenschaden nach Teilkörperbestrahlung Bei Bestrahlung größerer Körperabschnitte können die Symptome des lokalen Schadens mit den unter A genannten Allgemeinerscheinungen verbunden sein.
1. Ein akuter Schaden der Haut infolge beruflicher Tätigkeit ist vorwiegend an den Händen lokalisiert und beginnt mit einem meist juckenden Erythem, das je nach Dosis in Wochen, Tagen oder Stunden mit wechselnder Intensität in Erscheinung tritt. Sehr hohe Dosen verursachen Desquamation und Nekrose (Ulcus).
2. Ein akuter Schaden der Schleimhaut kann etwas früher als der akute Schaden der Haut auftreten und besteht wie dieser in Erythem, Desquamation mit Blutungen und ggf. Nekrose.
3. Ein akuter Schaden des Auges äußert sich überwiegend in einer entzündlichen Veränderung der Bindehaut.
4. Ein akuter Schaden der Keimclrüsen äußert sich in temporärer oder dauernder Sterilität mit Amenorrhoe bzw. Oligo-Azoospermie.
Die unter Ziff. 1 bis 4 genannten Schäden sind nur bei Einwirkung höherer Dosen (1 Sv und höher) zu erwarten.
C. Chronischer allgemeiner Strahlenschaden nach Ganzkörperbestrahlung
Er kann sich durch einmalige Einwirkung einer hohen Strahlendosis als Folge einer akuten Strahlenschädigung wie auch durch wiederholte Einwirkung kleinerer Dosen entwickeln. Die unter A geschilderten Symptome könnten bei geringeren Strahlendosen bzw. geringer Dosisleistung fehlen oder in abgeschwächter Form auftreten, und dennoch werden später Strahleneffekte hervorgerufen (s. Abschnitt E).
D. Chronischer lokaler Strahlenschaden nach Teilkörperbestrahlung
Akute oder chronische Teilkörperbestrahlungen verursachen Spätschäden (s. Abschnitt E). Besondere Beachtung verdient:
1. Bei externer Bestrahlung kommt es immer zu einer Exposition der Haut. Ein chronischer Schaden der Haut äußert sich nach hohen Strahlendosen (mehrere Sv und höher) in Atrophie mit pergamentartiger Beschaffenheit der Haut sowie in Pigmentverschiebung, ungleichmäßiger Pigmentierung, Trockenheit infolge Störung der Talg- und Schweißdrüsenabsonderung, Dauerepilation, trockener Abschilferung, Verhornung, Rhagadenbildung und Teleangiektasie. Außerdem können Wachstumstörungen mit Längsriffelung und Brüchigkeit der Nägel auftreten. Ekzeme und schmerzhafte Ulzerationen sowie Warzenbildung und Hautkarzinome sind möglich.
2. Chronischer Schaden der Atemwege und der Lunge: U. a. kommt es bei der Förderung von Pechblende-Erz, welches Radium, dessen Zerfallsprodukte und andere radioaktive Stoffe enthält, durch Inhalation zur lokalen Exposition der Atemwege. Nach mehrjähriger Einwirkungszeit können chronische Schäden (z. B. Lungenfibrosen) und Lungenkrebs (sog. „Schneeberger Lungenkrebs“) auftreten. Die Zerfallsprodukte des Radiums (Radon u. a.), welche vorwiegend über die Atemwege aufgenommen werden, spielen dabei eine wichtige Rolle.
3. Chronische Schäden an anderen Organen können durch Strahleneinwirkung inkorporierter radioaktiver Stoffe auftreten. Sie finden sich am häufigsten bei den sogenannten kritischen Organen, d. h. denjenigen Organen, in denen radioaktive Stoffe sich bevorzugt ablagern (z. B. Schilddrüsen für Jod, Knochen für Strontium, Polonium u. a.).
E. Strahlenspätschäden
Strahlenspätschäden können sowohl nach einmaliger Einwirkung einer hohen Dosis als auch nach langzeitiger oder wiederholter Einwirkung kleiner Dosen auftreten. Der Strahlenexposition folgt eine längere symptomfreie Latenzzeit; eine akute Strahlenkrankheit muß dabei nicht vorausgegangen sein. Neben o. g. Spätschäden der Haut und Atemwege und neben Katarakten, die nach Bestrahlung der Augen mit höheren Dosen (>2 SV; vorwiegend bei Neutronen und schweren Teilchen, aber auch bei locker ionisierender Strahlung) vom hinteren Linsenpol ausgehend beobachtet werden, sind vor allem Leukämien und andere maligne Tumoren als strahlenbedingte Spätschäden bedeutsam (s. Anhang 2). Die Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Erkrankungen ist dosisabhängig.

IV. Weitere Hinweise
Um zu beurteilen, ob eine Erkrankung auf eine Strahlenexposition zurückzuführen ist, sind eine eingehende Arbeitsanamnese unter Berücksichtigung technischer Einzelheiten am Arbeitsplatz, der Ergebnisse der Personen- und Ortsdosismessungen, anderer unter II genannter physikalischer und biologischer Faktoren sowie der für den Arbeitsplatz getroffenen Strahlenschutzmaßnahmen von entscheidender Bedeutung.

Besonders ist zu prüfen, ob es sich beim Umgang mit radioaktiven Stoffen um offene oder umschlossene Präparate gehandelt hat. Bei Arbeiten mit offenen Präparaten ist die Möglichkeit einer Kontamination oder Inkorporation gegeben. Ggf. ist der Nachweis inkorporierter radioaktiver Stoffe im Körper und in den Körperausscheidungen in speziell hierfür eingerichteten Instituten zu führen. Die Beurteilung der Strahleneinwirkung ist in der Regel schwierig und sollte daher ggf. in Zusammenarbeit mit einem Strahlenbiologen/-physiker erfolgen. Die Anhänge 1 und 2 zum Merkblatt sind zu beachten.

V. Literatur

  • BEIR: The Effects of Exposure to Low Levels of lonizing Radiation. National Academy Press, Washington, D. C., 1980
  • Boice, J. D. und Fraumeni, J. F.: Radiation Carcinogenesis: Epidemiology and Biological Significance. Raven Press, New York, 1984
  • DeVita, V. T., Hellmann, S. und Rosenberg, S. A.: Principles and Practice of Oncology. Lippincott, Philadelphia, 1985
  • Feinendegen, L. E.: Begutachtung von Fällen, bei denen ein Strahlenschaden in Erwägung gezogen werden muß. In: „Strahlenschutz in Forschung und Praxis“. Band XV, 140-146 Thieme, Stuttgart, 1976
  • ICRP: Recommendations of the International Commission on Radiological Protection, Annals of the ICRP, Publication 26. Pergamon Press, 1977
  • Kleihauer, E.: Hämatologie. Springer, Berlin, Heidelberg, New York, 1978
  • NIH: Report of the National Institutes of Health: ad hoc Working Group to Develop Radioepidemiological Tables. NIH Publication No. 85-2748, U. S. Department of Health and Human Services, Washington, D. C., 1985
  • Preston, D. L., Kato, H., Kopecki, K. J. und Fujita, Sh.: Cancer Mortality among A-Bomb Survivors in Hiroshima and Nagasaki., 1950-1982. Life Span Study Report 10, Part 1, Radiation Effects Research Foundation, Hiroshima, 1987
  • Shimizu, Y., Kato, H., Schull, W. J., Preston, D. L., Fujita, Sh. und Pierce, D. A.: Comparison of risk coefficients for sitespecific cancer mortality based on the DS86 and T65DR shielded kerma and organ doses. Life Span Study Report 1 1, Radiation Effects Research Foundation, Hiroshima, 1987
  • Streffer, C.: Untersuchung des Leukämie- und Krebsrisikos bei beruflich strahlenexponierten Personen. In: „Strahlenschutz in Forschung und Praxis“, Band 30,93-120. Fischer, Stuttgart, New York, 1988
  • UNSCEAR: Sources, Effects and Risks of Ionizing, United Nations Scientific Commitee on the Effects of Ionizing Radiation. United Nations, New York, 1977
  • UNSCEAR: Sources, Effects and Risks of Ionizing, United Nations Scientific Commitee on the Effects of Ionizing Radiation. United Nations, New York, 1988
  • Wintrobe, M. M., Lee, G. R., Boggs, D. R., Bithell, T. C., Foerster, J., Athens, J. W. und Lukens, J. N.: Clinical Hematology. Lea & Febiger, Philadelphia, 1965

Anhang 1 zum Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zu Nr. 2402 Anl. 1
BeKV
Erläuterungen von ausgewählten Begriffen und Einheiten
1. Ionisieren bedeutet das Abtrennen von Elektronen aus dem Atomverband, wobei die ionisierten Atome oder die ionisierte Atome enthaltenden Moleküle in einen Zustand veränderter chemischer und dadurch auch biologischer Reaktionsbereitschaft gelangen.
2. ionisierende Strahlen sind energiereiche -Wellen(Quanten- oder Photonen-) bzw. Teilchen-(Korpuskular)-strahlen, die beim Durchgang durch Materie die Atome zu ionisieren vermögen.
3. Direkt ionisierende Strahlen sind alle elektrisch geladenen Korpuskeln, wie z. B. schnelle Elektronen oder Betastrahlen, Alphastrahlen, Protonen usw.
4. Indirektionisierende Strahlen sind Röntgen- und Gammastrahlen sowie Neutronen, die durch Wechselwirkung mit Atomen direkt ionisierende Strahlen erzeugen (z. B. Röntgen- oder Gammastrahlen: Elektronen; Neutronen: Rückstoßprotonen oder Kernprozesse).
5. Von außen wirkende Strahlen sind solche, die von einer außerhalb des Körpers sich befindenden Strahlenquelle in den Körper einwirken (externe Exposition).
6. Von innen wirkende Strahlen sind solche Strahlen, die von inkorporierten radioaktiven Stoffen im Körper ausgehen (interne Exposition).
7. Kontamination ist eine Verunreinigung durch radioaktive Stoffe.
8. Umschlossene Strahler sind radioaktive Stoffe, die in festen und inaktiven Stoffen inkorpiert sind, oder die von einer inaktiven Hülle umschlossen ist, die ausreicht, um bei üblicher Beanspruchung ein Austreten radioaktiver Stoffe zu verhindern und die Möglichkeit einer Kontamination auszuschalten.
9. Offene Strahler sind radioaktive Stoffe, die nicht in festen und inaktiven Stoffen inkorporiert oder von solchen umhüllt sind. Austreten radioaktiver Stoffe und Kontamination sind möglich.
10. Als Einheit der Strahlendosis (Ionendosis) gilt: „Coulomb pro Kilogramm“ (C/kg). Die alte Einheit ist das „Röntgen“ (R); Umrechnungsfaktor: 1 C/kg = 1,88 x 303 R.
11.  Als Einheit der absorbierten Dosis (Energiedosis) gilt das „Gray“ (Gy). Die alte Einheit ist das „Rad“ (rd). Umrechnungsfaktor: 1 Gy = 100 rd.
12. Die Äquivalentdosis „Sievert“ (Sv) wird als Einheit im Strahlenschutz verwendet. Sie berücksichtigt die unterschiedliche biologische Wirksamkeit verschiedener Strahlenqualitäten. Die Strahlenqualität wird bestimmt durch die Strahlenart und -energie. Zur Berücksichtigung der biologischen Wirksamkeit sind Bewertungsfaktoren (q) festgelegt (Sv = Gy x q). Die alte Einheit ist das „Rem“ (rem). Umrechnungsfaktor: 1 Sv = 100 rem.
13. Die Dosisleistung ist die Dosis/Zeit. Sie wird z. B. in „Gy/h“, oder „Sv/sec“ bzw. „Sv/min“ usw. gemessen.
14. Als Einheit der Radioaktivität gilt das“Becquerel (1 Bq = 1 Zerfall/sec); eine Umrechnung von „Bq“ in „Gy“ oder“Sv“ ist u. a. nur bei genauer Kenntnis der Art des Strahlers und des Expositionspfades (z. B. externe, interne Bestrahlung) sowie der Kinetik des radioaktiven Stoffes und anderer Faktoren möglich.
15. Die physikalische Halbwertzeit (HWZ) ist die Zeit, in der die Hälfte der ursprünglich vorhandenen Atome zerfallen ist. (Nach 2 HWZ ist noch 1/4, nach 3 HWZ noch 1/8 usw. der ursprünglichen Aktivität vorhanden.)
16. Die biologische Halbwertzeit ist die Zeit, in der die Hälfte der ursprünglich im Körper inkorporierten radioaktiven Stoffe u. a. durch Stoffwechselvorgänge ausgeschieden wird.

Anhang 2 zum Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zu Nr. 2402 An1. 1
BeKV
Strahlenempfindlichkeit einzelner Organe und Gewebe in Hinsicht auf die Verursachung
maligner Erkrankungen
Grad der Empfindlichkeit Organ/Gewebe
Hoch Brust
Colon
Knochenmark (Leukämie)
Lunge
Mage
Mittel
Blase
Haut
Leber
Lymphat. Zellen (Plasmocytom)
Ösophagus,
Ovar
Schilddrüse
Niedrig Hirn
Knochen
Lymphat. Zellen (maligne Lymphome)
Niere
Prostata
Rektum

Empfehlung für die Bearbeitung von Berufskrankheiten infolge von Tätigkeiten bei der ehemaligen SowjetischDeutschen Aktiengesellschaft
(SDAG) Wismut (VB 27/93)
Auf der Grundlage der Verwaltungsvereinbarung nach § 88 SGB X über die Unterstützung bei der Bearbeitung von Beruf skrankheitenverfahren betreffend die Nr. 92 (bösartige Neubildungen oder ihre Vorstufen durch ionisierende Strahlung) der Liste der ehemaligen DDR aus dem Bereich der SDAG Wismut wird das nachfolgend dargestellte Bearbeitungsverfahren empfohlen.
I. Grundlagen
Zwischen dem vermehrten Auftreten von Lungenkrebs und der Tätigkeit im Uranerzbergbau besteht ein kausaler Zusammenhang. Für die Angabe der Strahlenexposition im Uranerzbergbau wird ein besonderer Dosisbegriff
verwendet:
Working Level Month*) – abgekürzt – WLM
Bei gegebener Exposition in WLM läßt sich das Risiko für die Strahleninduktion von Lungenkrebs relativ verläßlich abschätzen.
In einem Gespräch mit medizinischen Strahlenexperten am 25. 6. 1991 wurde übereinstimmend festgestellt, daß bei der Diagnose Lungenkrebs und einer Exposition von 200 WLM und mehr die berufliche Verursachung als hinreichend wahrscheinlich anzusehen ist. In der Zeit zwischen 1946 und 1955 muß im Untertagebau mit einer mittleren jährlichen Strahlenexposition von 150 WLM gerechnet werden. Der Wert von 200 WLM wurde in diesem Zeitraum daher bereits nach etwa 16 Monaten Untertagetätigkeit erreicht.

*) Erläuterung:
Maßgebend für die Strahlenexposition ist die Konzentration des Radons und vor allem diejenigen seiner kurzlebigen Zerfallsprodukte in der Atemluft. Die gesamte in der Raumeinheit vorhandene Energie der Alphastrahlung dieses Radioaktivitätsgemisches dient als Maß für die Exposition. Die Einheit Working Level (WL) ist wie folgt definiert:

1 WL 1,3 . 10-5 MeV/1 = 2,08 . 10-5 J/m3

Wirkt diese Alpha-Energiekonzentration in der Atemluft von 1 WL einen Arbeitsmonat (170 h) lang auf einen Menschen ein, so wird diese Dosis  1 Working Level Month, abgekürzt LWLM, genannt.

Die Feststellung des Expertenkreises erlaubt ein vereinfachtes Anerkennungsverfahren insbesondere für Fälle mit Expositionen in den ersten zehn Nachkriegsjahren (1946 – 1955). In einem zweiten Gespräch mit medizinischen Strahlenexperten am 9. 4. 1992 wurde ein von Prof. Jacobi und Mitarbeitern erarbeitetes Modell zur Ermittlung der Verursachungswahrscheinlichkeit von Lungenkrebs bei Uranbergarbeitern als ergänzende Grundlage für eine Abstufung im Anerkennungsverfahren akzeptiert. Das Berechnungsmodell ist in der Broschüre des Instituts für Strahlenschutz der Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik und der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie mit dem Titel
Verursachungs-Wahrscheinlichkeit von Lungenkrebs durch die berufliche Strahlenexposition von Uranbergarbeitern der Wismut AG Gutachterliche Stellungnahme im Auftrage der Berufsgenossenschaften von W. Jacobi in Zusammenarbeit mit K. Henrichs und D. Barclay ausführlich dargestellt worden. Es ermöglicht eine Entscheidungsfindung mittels einfacher Berechnungsverfahren zur Exposition. Die Bezirksverwaltung der BergbauBerufsgenossenschaft in Gera und das Institut für Strahlenschutz der Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik, der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie stehen für ergänzende Erläuterungen zur Verfügung.

II. Unterstützung im Verfahren
Bei Berufskrankheitenverfahren nach BK-92 (DDR-BK-Liste) bzw. nach BK-2402 von Beschäftigten der SDAG Wismut unterstützt die Bergbau-Berufsgenossenschaft die für den Fall zuständige Berufsgenossenschaft. Die Bergbau-Berufsgenossenschaft wird bei grundsätzlichen Fragestellungen vom Institut für Strahlenschutz der Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik und der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie unterstützt. Dieser Unterstützung wird bei Vorliegen folgender Voraussetzungen gewährt:

  • Bösartige Neubildungen durch ionisierende Strahlung (insbesondere Diagnose Lungenkrebs) oder deren Vorstufen
  • Untertagebeschäftigung bei der SDAG Wismut oder
  • Vergleichbare Beschäftigung mit strahlenexponierten Tätigkeiten bei der SDAG Wismut.
    In solchen Fällen übernimmt die
    Bergbau-Berufsgenossenschaft Bezirksverwaltung Gera – Betreuungsdienst –
    Amthorstraße 12
    0-6500 Gera
    Tel.: 00 37/70 61 10
    Fax.: 0037/7023361
    auf Anfrage folgende Aufgaben:
  • Erhebung der Arbeitsvorgeschichte
  • Abschätzung der Strahlenexposition
  • Hilfestellung bei der Beschaffung medizinischer Unterlagen
  • und auf Wunsch
  • Würdigung der Ermittlungsergebnisse.

Diese Vorgehensweise erfasst alle Fälle, die nach dem Zufallsschlüssel direkt auf die
Berufsgenossenschaften verteilt werden.
Eine größere Zahl von Fällen liegt derzeit noch unbearbeitet beim Gesundheitswesen der
Wismut. Im Interesse einer zügigen Abwicklung werden diese Fälle in direkter Abstimmung
zwischen der Bergbau-BG und dem Gesundheitswesen der Wismut im Sinne der oben
dargestellten Vorgehensweise vorbearbeitet und erst anschließend auf die
Berufsgenossenschaften verteilt.
III. Beurteilung der Fälle
Ergibt die Abschätzung der Strahlenexposition einen Wert von  200 WLM und mehr, ist nach
Auffassung des o. g. Expertenkreises eine ärztliche Einzelfallbegutachtung nicht erforderlich.
Für die Anerkennung genügt eine fachärztliche Stellungnahme. Gleiches gilt für solche Fälle,
bei denen aufgrund der Höhe der Exposition unter Berücksichtigung des Alters zum Zeitpunkt
der Exposition und zum Zeitpunkt der Diagnosestellung der Ursachenzusammenhang ebenso
wie bei dem Wert ab 200 WLM wahrscheinlich ist. Anhaltspunkt für diese Entscheidung sind die
von Prof. Jacobi in der anliegenden Untersuchung dargestellten Beurteilungsgrundlagen.
Fälle mit einer Exposition von weniger als 50 WLM sind ausschließlich auf der Grundlage von
Einzelgutachten zu entscheiden. Die Risikoabschätzung nach dem Modell von Jacobi sollte in
die Wertung mit einfließen.

IV. Gültigkeit
Die Empfehlung hat keinerlei bindenden und abschließenden Charakter. Sie soll eine
Entscheidungshilfe sein, die nach weiteren Erfahrungen zusätzlicher Verfeinerungen und

Ergänzungen bedarf.Verursachungs-Wahrscheinlichkeit in Abhängigkeit vom Alter bei Diagnose
im Fall einer kurzzeitigen, kumulierten Exposition von 20 – 250 WLM im Alter von 30 Jahren

Merkblatt zur Berufskrankheit Nummer 24021

Quelle: 1 Universität Rostock – Medizinische Fakultät
Institut für Präventivmedizin

Krankheit, die durch die berufliche, versicherte Tätigkeit verursacht worden ist