Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische
Schweregrad 4 der toxischen Enzephalopathie ist die Demenz, siehe zur BK 1317, verursacht durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische.
Berufskrankheit Nr. 1317
Merkblatt für die ärztliche Untersuchung
(BArbBl 3/2005 S. 49)
I. Vorkommen und Gefahrenquellen
Toxische Polyneuropathien oder Enzephalopathien können durch die Einwirkung neurotoxischer organischer Lösungsmittel entstehen. Gesichert neurotoxische Lösungsmittel sind nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand:
- Aliphatische Kohlenwasserstoffe: n-Hexan, n-Heptan
- Ketone: Butanon-2, 2-Hexanon
- Alkohole: Methanol, Ethanol, 2-Methoxyethanol
- Aromatische Kohlenwasserstoffe: Benzol, Toluol, Xylol, Styrol
- Chlorierte aliphatische Kohlenwasserstoffe: Dichlormethan, 1,1,1-Trichlorethan, Trichlorethen Tetrachlorethen. Solche neurotoxischen Lösungsmittel können in zahlreichen Produkten einzeln oder in Gemischen mit anderen Lösungsmitteln zur Anwendung kommen (13)
- zum Reinigen und Entfernen in der Metall-, Textil- und Kunststoffindustrie
- als Lösungsmittel für Farben, Lacke, Klebstoffe, Holzschutzmittel, Gummilösungen und zum Abbeizen
- für zahlreiche chemische Reaktionen als Ausgangs- oder Zwischenprodukt oder als Lösungsvermittler.
Organische Lösungsmittel sind der in Regel leicht flüchtig, d.h., dass sie auch bei niedrigen Temperaturen rasch verdampfen. Unter ungünstigen Ventilationsbedingungen können deshalb höhere Konzentrationen in der Atemluft resultieren. Direkter Hautkontakt kann gegebenenfalls die Lösungsmittelaufnahme steigern.
Erhöhte Risiken bestehen bei folgenden Tätigkeiten:
Abbeizen, Versiegeln, großflächiges Aufbringen von Klebstoffen oder Lacken und großflächiges Auftragen von Polyesterharzen.
Besondere Risikoberufe sind:
Bodenleger, Parkettleger, Handlaminierer, teilweise Tankreiniger, Säurebaumonteure.
II. Pathophysiologie
Organische Lösungsmittel werden aufgrund ihrer Flüchtigkeit vorwiegend über die Lungen eingeatmet, zum Teil auch durch die Haut resorbiert. Nach der Aufnahme verteilen sie sich im ganzen Organismus, insbesondere auch im Nervensystem. Anschließend werden sie zum Teil unverändert wieder abgeatmet und zum Teil metabolisiert über die Nieren ausgeschieden. Die Eliminationshalbwertzeiten differieren für die einzelnen Lösungsmittel zwischen wenigen Stunden bis zu zwei Tagen (1).
Grundsätzlich können alle organischen Lösungsmittel über kurzfristige Membranwirkungen an der Nervenzelle zu flüchtigen pränarkotischen Symptomen und sogar zu einer Narkose führen.
Die eigentliche Dauerwirkung neurotoxischer Lösungsmittel mit dem Endergebnis einer Polyneuropathie oder Enzephalopathie beruht dagegen auf ihrer Biotransformation zu neurotoxischen Metaboliten. Die Angriffspunkte dieser Metaboliten in der Nervenzelle sind unterschiedlich und zum Teil noch nicht geklärt. 2,5-Hexandion als neurotoxischer Metabolit von n-Hexan und Methylbutylketon beeinträchtigt z.B. den axonalen Transport. Folgen sind zunächst Funktionsstörungen (Parästhesien, Sensibilitätsausfälle), im weiteren Verlauf auch morphologische Veränderungen mit primär axonalen Schädigungen. histologisch finden sich große paranodale Axonauftreibungen, Akkumulation von Neurofilamenten und Glykogengranula. Außerberufliche neurotoxischen Faktoren (z.B. Alkohol, Medikamente oder Erkrankungen wie Diabetes mellitus) können diesen Verlauf beeinflussen.
III. Krankheitsbild und Diagnose
Polyneuropathie
Typisch für eine neurotoxische Polyneuropathie sind symmetrisch-distale, arm- und beinbetonte, sensible, motorische oder sensomotorische Ausfälle mit strumpf- bzw. handschuhförmiger Verteilung. Anamnestisch ist wichtig, dass die Sensibilitätsstörungen von distal nach proximal aufsteigen und dass die Parästhesien häufig nachts zunehmen. Objektiv lassen sich je nach Krankheitsausprägung distal symmetrische Sensibilitätsstörungen für Vibrationsempfinden, Lageempfinden, Ästhesie, Algesie und Zweipunktdiskrimination erkennen. Im weiteren Verlauf werden Reflexabschwächungen oder Areflexie, Störungen der autonomen Nervenversorgung, Verminderung der sensiblen und motorischen Nervenleitgeschwindigkeiten und distalen Latenzen sowie neurogene Schädigungsmuster im EMG nachweisbar. Die motorischen Veränderungen können sich darstellen als leichte motorische Schwäche bis hin zur völligen muskulären Lähmung mit Muskelatrophie. Betroffen ist überwiegend die Muskulatur im Bereich der Hände und Füße. In schweren Fällen kann es jedoch zu vollständiger Tetraplegie und Befall der Atemmuskulatur kommen (1, 5, 12). Dagegen ist die Polyneuropathie durch Trichlorethen gekennzeichnet durch Sensibilitäts- und Reflexverlust oder sensomotorische Ausfälle im Versorgungsgebiet des Nervus trigeminus im Gesicht. Ein Befall des Nervus oculomotorius und des Nervus abducens kommt ebenfalls vor. Auch nach Trichlorethen-Einwirkung wurde eine periphere Polyneuropathie beschrieben (6, 7). Die lösungsmittelbedingte Polyneuropathie entwickelt sich i.d.R. in engem zeitlichem Zusammenhang mit der beruflichen Lösungsmittelexposition. Allerdings wurden vereinzelt Krankheitsverläufe berichtet, bei denen es 2-3 Monate nach Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit zu einer Verschlechterung der Bewegungsfähigkeit kommt (4), so dass die klinische Diagnose der Polyneuropathie auch 2-3 Monate nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit erstmals gestellt werden kann. Lösungsmittelbedingte Polyneuropathien verbessern sich nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit häufig, nicht selten bleibt die lösungsmittelbedingte Polyneuropathie jedoch klinisch nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit konstant oder verschlechtert sich (1, 4, 5, 11, 12, 14). Eine Persistenz oder eine Verschlechterung der Erkrankung nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit schließt eine Verursachung durch Lösungsmittel nicht aus.
Differentialdiagnostisch ist in erster Linie an alkoholische oder diabetische Polyneuropathien zu denken. Asymmetrische, multifokale, rein motorische oder autonome Neuropathien schließen eine Verursachung durch Lösungsmittel weitgehend aus.
Toxische Enzephalopathie
Eine toxische Enzephalopathie äußert sich durch diffuse Störungen der Hirnfunktion, Konzentrations- und Merkschwächen, Auffassungsschwierigkeiten, Denkstörungen, Persönlichkeitsveränderungen oft mit Antriebsarmut, Reizbarkeit und Affektstörungen stehen im Vordergrund.
Im klinischen Verlauf unterscheidet man folgende Schweregrade (15):
Schweregrad I:
Erschöpfung, Ermüdbarkeit, Konzentrationsschwäche, Merkschwäche, allgemeine Antriebsminderung.
Schweregrad II A:
Ausgeprägte und dauerhafte Persönlichkeitsveränderungen, zunehmende Merk- und Konzentrationsschwäche, Stimmungsschwankungen mit depressivem Einschlag, Affektlabilität. Nachweis testpsychologischer Leistungsminderungen.
Schweregrad II B:
Zusätzlich zu den unter II A aufgeführten psychischen Störungen lassen sich leichte neurologische Befunde wie Tremor, Ataxie und andere Koordinationsstörungen nachweisen.
Schweregrad III:
Demenz mit ausgeprägten Intelligenz- und Gedächtnisstörungen, Nachweis hirnatrophischer Veränderungen bei kranialer Computertomographie oder Kernspintomographie.
Schweregrad III
wird bei schweren exogenen (Alkohole) und endogenen Intoxikationen beobachtet. Auch nach chronischer Lösungsmitteleinwirkung wurden Enzephalopathien mit Hirnatrophie beschrieben
(2, 9).
Toxische Enzephalopathien treten in der Regel noch während des Expositionszeitraumes auf.
Mehrere Studien zeigen jedoch auch Jahre nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit eine Zunahme der subjektiven Beschwerden sowie eine Verschlechterung der Ergebnisse psychologischer Testverfahren und der neurologischen Untersuchungsergebnisse (2, 7, 10, 11). Hieraus folgt, dass die klinische Diagnose der lösungsmittelbedingten Enzephalopathie auch mehrere Jahre nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit erstmals gestellt werden kann. Die lösungsmittelbedingte Enzephalopathie kann sich nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit bessern, konstant bleiben oder verschlechtern (2, 3, 7, 10, 11). Eine Persistenz oder eine Verschlechterung der Erkrankung nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit schließt eine Verursachung durch Lösungsmittel nicht aus.
Die Diagnose stützt sich auf die anamnestischen Angaben und den psychopathologischen Befund. Wichtige anamnestische Hinweise sind Alkoholintoleranz und häufige pränarkotische
Symptome im unmittelbaren Zusammenhang mit der Lösungsmittelexposition (Benommenheit, Trunkenheit, Müdigkeit, Übelkeit, Brechreiz, aber auch Zustände von Euphorie). Der psychopathologische Befund muss durch psychologische Testverfahren objektiviert werden, die das Alter des Patienten berücksichtigen. Bei diesen Testverfahren sollen untersucht werden: die prämorbide Intelligenz, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen, Psychomotorik, Wesensveränderungen und Befindlichkeitsstörungen. Neurophysiologische Untersuchungen (EEG, evozierte Potentiale, Nervenleitgeschwindigkeit) sowie bildgebende Verfahren (Computertomogramm, Kernspintomogramm) ergeben bei den lösungsmittelverursachten Enzephalopathien in der Regel Normalbefunde. Sie sind jedoch für die Differentialdiagnostik von Bedeutung. Erhöhte Werte im Biomonitoring (Lösungsmittel oder deren Metabolite im Blut oder Urin) können die Diagnose stützen.
Differentialdiagnostisch sind in erster Linie eine Multiinfarkt-Demenz, ein Morbus Alzheimer und eine alkoholtoxische Enzephalopathie auszuschließen. Darüber hinaus ist die gesamte Differentialdiagnostik exogener und endogener toxischer Enzephalopathien, traumatischer Psychosyndrome, Affektpsychosen und neurotischer Fehlentwicklungen zu berücksichtigen.
IV. Weitere Hinweise
Weitere Krankheitsmanifestationen über die Polyneuropathie und die Enzephalopathie hinaus, die bei beruflicher Einwirkung von Lösungsmitteln oder deren Gemischen entstehen können, fallen nicht unter den Geltungsbereich dieser Berufskrankheitennummer. Es sind dies z.B. epileptische Anfälle durch Benzol, Parkinson-Syndrome durch Methanol und halluzinatorische Psychosen durch Toluol, Dichlormethan und Tetrachlorethen. Sie können ggf. unter den Berufskrankheitennummern der jeweiligen Substanzen entschädigt werden.
V. Literatur
- Allen, N., Mendell, R.J., Billmaier, D.J., Fontaine, R.E., O’Neill, J.: Toxic polyneuropathy due to methyl n-butyl ketone. Arch. Neurol., 32 (1975) 209 – 218
- Bruhn, P. Arlien-Søborg, P., Gyldensted, C., Christensen, E. L.: Prognosis in chronic toxic encephalopathy. Acta neurol. scandinav. 64 (1981) 259 – 272
- Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Bekanntmachung einer Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMA – Sektion “Berufskrankheiten”: “Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische”. Bundesarbeitsblatt, H. 9, 44-49 (1996)
- Chang, Y.C.: Patients with n-hexane induced polyneuropathy: a clinical follow up. Brit. J. Industr. Med. 47 (1990) 485 – 489
- Cianchetti, C., Abbritti, G., Perticoni, G., Siracusa, A., Curradi, F.: Toxic polyneuropathy of shoe-industry workers, a study of 122 cases. J. Neurol. Neurosurg. Psychiat. 39 (1976) 1151 – 1161
- Deutsche Forschungsgemeinschaft: Trichlorethen, gesundheitsschädliche Arbeitsstoffe, toxikologisch-arbeitsmedizinische Begründungen von MAK-Werten, Weinheim, Wyley-VCH, Loseblattsammlung, 22. Lieferung 1996
- Dryson, E.W., Ogden, J.A.: Organic solvent induced chronic toxic encephalopathy: extent of recovery, and associated factors, following cessation of exposure. Neurotoxicology 21 (2000) 659 – 666
- Feldmann, R.G.: Occupational and environmental neurotoxicology, Philadelphia, Lippincott-Raven Publishers, 1999
- Lorenz, H., Weber, E., Omlor, A., Walter, G., Haaß, A., Steigerwald, F., Buchter, A.: Nachweis von Hirnschädigungen durch Tetrachlorethen. Zbl. Arbeitsmed. 40 (1990) 355 – 364
- Nordling Nilson, L., Sällsten, G., Hagberg, S., Bäckman, L., Barregård, L.: Influence of solvent exposure and aging on cognitive functioning: an 18 year follow up formerly exposed floor layers and their controls. Occup. Environ. Med. 59 (2002) 49 – 57
- Ørbæk, P., Lindgren, B.A.: Prospective clinical and psychometric investigation of patients with chronic toxic encephalopathy induced by solvents. Scand. J. Work. Environ. Health 14 (1988) 37 – 44
- Passero, S., Battistini, N., Giannini, F., Paradiso, C., Carboncini, F., Sartorelli, E.: Toxic polyneuropathy of shoe workers in italy. A clinical, neurophysiological and follow-up study. Ital. J. Neurol. Sci. 4 (1983) 463 – 472
- Konietzko, J.: Organische Lösungsmittel. In: Konietzko, J.: Dupuis H. (Hrsg.): Handbuch der Arbeitsmedizin, Ecomed Verlag, Landsberg, 1989
- Valentino, M.: Residual electroneurographic modifications in subject with n-hexane induced polyneuropathy: a follow-up study. Med. Lav. 87 (1996) 289 – 296
- WHO: Chronic Effects of Organic Solvents on the Central Nervous System and Diagnostic Criteria, Document 5, Copenhagen, 1985
Merkblatt zur Berufskrankheit Nummer 13171
Quelle: 1 Universität Rostock – Medizinische Fakultät
Institut für Präventivmedizin